Über Gängelei und Drohanrufe

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Letzten Sonntag habe ich einen Standortwechsel durchgeführt, um die Menschen bei denen ich wohnte nicht länger zu gefährden. Seitdem habe ich dreimal das Hotelzimmer wechseln müssen. Jedes Mal gab es keinerlei Begründung. Im letzten Hotelzimmer wurde ich am Mittwoch fast zwei Stunden von zwei Personen in zivil festgesetzt. In der Zwischenzeit war eine dritte Person mit meinem Reisepaß verschwunden, um meine Personalien festzustellen. Als sie wieder verschwanden, nahmen sie meinen Laptop mit. Ich bekam dafür keine Quittung.

Daraufhin hatte ich über einen Anwalt eine Anzeige und Beschwerde verfassen lassen. Vor Abgabe wurde der Rechner jedoch am Donnerstag wieder bei der Hotelrezeption abgegeben. Man sollte mir zusätzlich mitteilen, dass ich sehr gut darauf aufpassen solle, sonst würde dem Laptop noch etwas passieren. Man wisse ja nie in diesen unruhigen Zeiten.

Heute am Freitag habe ich die Information bekommen, dass meine Familie in der Türkei einen Drohanruf bekommt hat. Die Polizei könne nicht für meine Sicherheit und auch nicht für die meiner Familie garantieren. Es gebe zu viele schlechte Menschen. Danach wurde aufgelegt. Die Polizei gab auf eine Nachfrage meines Anwalts an nicht hinter diesem Anruf zu stecken. Da ich die Situation nicht einschätzen kann habe ich heute früh beschlossen die Türkei vorerst zu verlassen und befinde mich in Sicherheit.

Lice ist überall, Taksim ist überall

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Am letzten Samstag war die Polizei, während ihres Einsatzes auf dem Taksim in Istanbul relativ zurückhaltend, dafür zeigte sie eine sichtbar größere Präsenz. So standen die Einheiten direkt neben den KundgebungsteilnehmerInnen. Zusätzlich wurde der halbe Platz schon sehr frühzeitig gesperrt. Die Menschen drängelten sich deswegen auch ab der Höhe der Atatürk-Statue weit in die Istiklal Straße hinein. Dort gab es erneut fast kein Durchkommen mehr. Einige hunderttausend Menschen werden es wieder gewesen sein.

Die Taksim-Widerstandsplattform stellte über den Platz verteilt mehrere Redner um dadurch so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Trotz mobilen Lautsprecheranlagen war es sehr schwer die Redebeiträge mitzuverfolgen. Einzig die Parolen konnten gut wahr genommen werden, weil die Menschen sofort mit einstimmten.

Diskutieren oder Kämpfen?

Der Taksim grüßt Lice - Fotoquelle: Erkan Dinar

Taksim grüßt Lice – Fotoquelle: Erkan Dinar

Wichtigstes Thema auf dem Platz war der Tod des erst 18-jährigen Medeni Yıldırım aus dem Landkreis Lice/Pîran(Provinz Diyarbakır/Amed) nur einen Tag zuvor. Er starb, bei Protesten gegen den Erweiterungsbau einer Polizeistation, durch eine Kugel der paramilitärischen Jandarma. Hier ein Video dazu.

Bereits Stunden vor Beginn der Kundgebung um 19.00 Uhr hatte die Barış ve Demokrasi Partisi – Partei des Friedens und der Demokratie – (BDP) zu einer Demonstration vom Galatasaray Gymnasium zum Taksim-Platz aufgerufen. Die Partei der kurdischen Minderheit in der Türkei fordert eine Aufklärung der Bluttat, die sofortige Entbindung aller in den Mord verstrickten Paramilitärs und die Einleitung von Strafverfahren. Der BDP gelang es damit die Wut der Menschen in Istanbul zu kanalisieren. Die Kämpfe am späteren Abend in Istanbul waren harmlos und zurückhaltend.

Die Aufforderung der Taksim-Widerstandsplattform, im Anschluss an die Kundgebung in die eigenen Viertel und Parkanlagen zurückzukehren, um dort zwischen 21.00 und 23.00 Uhr an den Diskussionsforen teilzunehmen, stieß bei sehr vielen Menschen auf Ablehnung. Die WortführerInnen dieser Ablehnung führten an, dass der Kampf um den Taksim auf den Straßen und Plätzen entschieden werden würde und nicht in Diskussionsrunden. Heute sei nicht die Zeit um zurückzukehren. An diesem Beispiel können die vorhandenen Differenzen innerhalb der Opposition in Istanbul sehr deutlich gesehen werden. Denn viele Menschen verließen den Taksim in Richtung der Foren. Die Mehrheit jedoch blieb und hielt die Straßen weiterhin besetzt.

Die Polizei reagierte wie erwartet und drang in die Menge ein, um sie zurückzudrängen und von den Straßen zu bekommen. Dabei wurden erneut wahllose Verhaftungen durchgeführt und eine unverhältnismäßige Gewalt angewendet. Es war dabei sehr auffällig, dass beim Nachsetzen keine neuen Polizeikräfte auf dem Platz auftauchten um die vorrückenden Einheiten zu ersetzen. Auch kehrten die vorrückenden Einheiten sehr schnell wieder zurück auf den Taksim, um wieder in einer passiven Stellung zu verharren. Sie störten sich nicht an der Präsenz der DemonstrantInnen. Mit einer Deeskalationsstrategie dürfte dies jedoch nichts zu tun haben, vielmehr mit zu wenig Polizeieinheiten in Istanbul.

Polizisten sind unzufrieden

Wollen nur noch raus aus Istanbul - Fotoquelle: Erkan Dinar

Wollen nur noch raus aus Istanbul – Fotoquelle: Erkan Dinar

Die halblegale Polizeigewerkschaft kritisiert bereits seit Beginn der Gezi-Park-Proteste Ende Mai 2013, die unwürdigen Arbeitsbedingungen für die Polizeieinheiten. Dauerarbeitseinsätze von bis zu 120 Stunden am Stück, mit nur ein paar Stunden Schlaf dazwischen, würden an den Nerven der Polizisten nagen. Wenn sie mal schlafen dürften, dann im Gezi-Park am Boden oder in den städtischen Bussen im sitzen. Die Zeiten für Toilettengänge und Essen müssten oft, während den Einsätzen in Anspruch genommen werden. Die Einfrierung der Urlaubstage sei nicht akzeptabel. Die bisherige Zahl von sechs Selbstmorde drohe zu steigen.

Mittlerweile reagierte die Zentralbehörde der Polizei und hob die Urlaubssperre auf. Auch wurde es Polizisten aus anderen Regionen der Türkei gestattet in ihre Heimatprovinzen zurückzukehren. Insgesamt haben damit über 1.600 Polizisten Istanbul bereits in der letzten Woche verlassen. Um die Gemüter der Polizisten weiter zu beruhigen wurden Bonuszahlungen genehmigt. So erhält ein Beamter mit 5 Jahren Dienstzeit 1080 Lira (425 Euro). Bei 15 Jahren Dienstzeit sind es 4.800 Lira (1895 Euro).

Die Zeit zum Wechsel der Seiten, scheint für die Polizisten kontinuierlich näher zu kommen, wenn sie schon gekauft werden müssen. Es wird nun an den protestierenden Menschen liegen auch weiterhin friedlich die Straßen und Plätze zu besetzen, dort mit den Polizisten das Gespräch zu suchen, weiterhin die Provokateure in den eigenen Reihen zu stoppen und die Diskussionsforen in den Parkanlagen und Stadtteilvierteln als demokratischen Willen der Bevölkerung zu etablieren und damit Parallelstrukturen zur undemokratischen Zentralgewalt aufzubauen.

Nun auch noch Diebstahl

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Murat Dilberoğlu erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei: Erst sei er geschlagen und danach bestohlen worden. Der Vorfall ereignete sich am 16. Juni 2013 in der Nähe der Metrostation Osmanbey im Istanbuler Stadtlandkreis Şi̇şli̇. Erhärtet wird seine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft durch Videoaufzeichnungen.

Als die versammelte Demonstrationsmenge am besagten Tag von der Polizei angegriffen wurde, sei er mit vier weiteren Personen in ein Gebäude geflohen. Dort habe er sich im 5. Stockwerk versteckt. Polizisten hätten die Scheibe an der Haustür eingeschlagen und seien gewaltsam ins Haus eingedrungen. Mit übelsten Beschimpfungen und Beleidigungen habe man mit Schlagstöcken und Gewehrkolben auf die Menschen eingeschlagen. Im 4. Stockwerk habe man zuerst versucht den Lift zu benutzen. Dabei sei mindestens ein Handy aus seiner Tasche gefallen. Man habe ihn gehindert es aufzuheben. Im nächsten Stockwerk verlor er seine Tasche. Vor dem Appartement sei er mit seiner blutenden Kopfverletzung einfach liegen gelassen worden. Menschen seien ihm zur Hilfe geeilt. Ein junger Mann habe ihn auf seine Bitte hin seine Tasche aus dem Gebäude geholt. Doch das zweite Handy sei ebenfalls weg gewesen. Tatsächlich kann auf der Aufzeichnung beobachtet werden wie im 4. Stockwerk beide Mobiltelefone auf dem Boden liegen bleiben. Hier das Video dazu. Kurze Zeit später wurden die Telefone von einem Polizisten aufgehoben und mitgenommen.

Steckte dieser Polizist die Telefone von Murat Dilberoğlu ein? - Fotoquelle: Screenshot/DHA Video

Steckte dieser Polizist die Telefone von Murat Dilberoğlu ein? – Fotoquelle: Screenshot/DHA Video

Die Mobiltelefone mit Videofunktion sind auch weiterhin von enormer Wichtigkeit für die politischen AktivistInnen. Mit ihnen lassen sich die Grausamkeiten der Polizei aufzeichnen und – erst einmal bei Youtube und Facebook hochgeladen – der Welt präsentieren. Die Polizei steht der geballten Anzahl der Linsen machtlos gegenüber. Sofort werden die Bilder und Videos abgeschickt und damit anderen NutzerInnen der Sozialen Medien zur Verfügung gestellt.

Durch technische Störmanöver kann der Staat nur eine temporäre Verschiebung der Präsentationen im Netz erreichen. Sichtlich genervt bezeichnete Premierminister Erdoğan in einem Fernsehinterview die Sozialen Medien mit als die größte Plage der heutigen Gesellschaft. Seine Partei droht jetzt mit staatlichen Eingriffen um die Ordnung wieder herzustellen. Hausdurchsuchungen bei Twitter-NutzerInnen und Verhaftungen sollen abschreckend wirken. Die jungen ProtestlerInnen lassen sich davon jedoch nicht verängstigen.

Run auf Polizeiakademie

Die öffentlich gewordenen Skandale um Polizeigewalt schaden dem Image und Ruf des Berufsstandes indes nicht. Für das nächste Ausbildungsjahr 2014/15 an der Polis Meslek Yüksek Okullari – Türkische Polizeiakademie – (PMYO) bewerben sich 65.000 Jugendliche mit Hochschulabschluss oder einem bereits abgeschlossenen Studium auf nur 7.000 offene Stellen. Nach einem vier Jahre dauernden Besuch der Akademie sind die AbsolventInnen berechtig nach einem sechsmonatigen Streifendienst direkt in den gehobenen Dienst einzusteigen. Der Leiter der Akademie, Prof. Dr. Remzi Fındıklı, äußerte gegenüber der Tageszeitung Hürriyet seine Begeisterung wegen diesem riesigen Ansturm. Dies zeige in welch großer Gunst die Polizei derzeit stehe.

Die OECD kritisiert das niedrige Bildungsniveau in der Türkei

Die OECD kritisiert das niedrige Bildungsniveau in der Türkei

Ob dies tatsächlich der Fall ist darf zumindest strittig sein angesichts eines neuen Bildungsberichts der Organisation for Economic Co-operation and Development – Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – (OECD). So hatten nach der jährlichen Studie „Education At a Glance 2013“ 2008 noch 62 Prozent der jungen AkademikerInnen eine Anstellung auf dem türkischen Arbeitsmarkt gefunden. 2011 konnten nur noch 54 Prozent dieses Privileg genießen.

35 Prozent der türkischen Jugendlichen zwischen 15 und 29 Jahren fallen in die Gruppe der so genannten NEETs (Not in Education, Employment or Training). Zum Vergleich: Im OECD-Durchschnitt sind es gerade einmal 16 Prozent. Sieht man sich die Verteilung nach Geschlechtern an, besuchen 50 Prozent der Frauen keine Schule, gehen keiner Lohnarbeit nach oder bilden sich nicht fort. Bei den Männern sind es 20 Prozent. Junge Frauen kommen damit auch weiterhin nicht aus den patriarchalen Geschlechterrollen hinaus. In den Familien werden sie dazu gedrängt sich dem Haushalt und der Kindererziehung anzunehmen.

Über das Entkommen und Überleben

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Die 39-jährige Serpil M. lebt seit 14 Jahren in Istanbul. Mit ihren mittlerweile 16 und 19-jährigen Söhnen musste sie damals aus einem kleinen Dörfchen in der Provinz Sinop fliehen. Ihr fünf Jahre älterer Ehemann war jähzornig und gewalttätig. Er schlug sie bei jeder bietenden Gelegenheit. Oft war er bis spät in die Nacht unterwegs. Als er den Weg nach Hause fand, rief der Muezzin um halb 5 schon wieder zum Morgengebet. Er stank oft nach Alkohol. Sie musste ihn entkleiden und ins Bett bringen. Für ihn gefügig sein und stillhalten. Sie ertrug es jahrelang. Irgendwann verlor sie das Gefühl für ihren Körper.

Ihre Schwiegermutter quälte sie zusätzlich. Hielt sie wie eine Haussklavin. Von morgens bis abends hatte sie zu gehorchen und Arbeiten zu erledigen. Ein strenger Befehlston war an der Tagesordnung. Als sie der Familie ihres Mannes von den Saufeskapaden und dem nächtlichen Fernbleiben ihres Ehemanns erzählte, glaubten sie Serpil nicht. Sie bekam die Prügel ihres Lebens. Zuerst von der Schwiegermutter mit dem Besenstiel und danach von ihrem Ehemann mit dem Gürtel. Sie krümmte sich vor Schmerzen. In dieser Nacht fasste sie den Entschluss mit ihren beiden Söhnen zu fliehen.

Doch in der eigenen Provinz konnte sie nicht bleiben. Der Klatsch und Tratsch über eine alleinerziehende Frau von zwei Kindern hätte sich wie ein Lauffeuer zur Familie ihres Ehemanns durchgefressen. Es wäre eine Frage der Zeit gewesen bis sie gefunden worden wäre. Auch zu ihrer eigenen Familie ins Nachbardorf konnte sie nicht. Sie war nun Mitglied eines anderen Familienclans und damit aus dem Schutz- und Verantwortungsbereich ihrer eigenen Familie. Außerdem hätte eine Wiederaufnahme in ihre eigenen Familie, ohne die Scheidungszustimmung ihres Mannes, eine Blutfehde zwischen den beiden Sippschaften ausgelöst. Innerhalb kurzer Zeit wären die beiden Dörfer in den Konflikt hinein gezogen worden. So war es in den früheren Zeiten und so wurde es Serpil eindringlich am Tag ihrer Heirat erzählt. Sie war 13.

Eines nachts vor fast 15 Jahren nahm sie ihre beiden Söhne und lief mit ihnen 5 bis 8 Kilometer vom Dorf, über die Felder, bis zur nächsten Hauptstraße. Dort nahm sie ein LKW-Fahrer, inzwischen einer Ladung von Wassermelonen, mit. In Ankara angekommen kaufte sie mit dem Geld, das sie von ihrem Ehemann gestohlen hatte zwei Busfahrkarten nach Istanbul. Ihre beiden Söhne mussten sich einen Sitz teilen. Meist schlief der Jüngere auf ihrem Schoß. An den Raststätten versteckte sie sich nach den Toilettengängen sofort wieder im Bus. Sie hatte Angst von einem Bekannten der Familie ihres Ehemanns gesehen und verraten zu werden.

In Istanbul angekommen konnte sie sich an keine Bekannten wenden. Wen kannte sie schon mit ihren 25 Jahren? Einige Tage schlief sie mit ihren Kindern in Parkanlagen. Dort wurde sie jedoch von den Parkwächtern oder der Polizei vertrieben. Mit ihren Kindern zusammen bettelte sie um Almosen. Sie brauchte dringend eine Wohnung und Arbeit. Doch für die Wohnung wollten die Vermieter Kaution. So nahm sie einen Kredit zu hohen Zinsen von einem Kredithai auf. Zum ersten Mal war sie Herrin in ihrer eigenen Ein-Zimmer-Wohnung mit Gemeinschaftsklo und Dusche im Flur. Der karge Boden musste als Schlafplatz herhalten. Ein Stapel von Zeitungen verteilt auf dem kalten Steinboden bildeten Teppich und Matratze zugleich.

Ihre beiden Kinder bedurften viel Aufmerksamkeit. Sie fremdelten in Istanbul. Als Dorfmensch war man hier nicht sehr viel wert. Sie weinten oft und verlangen nach ihrem Vater. Serpil dachte jedoch nicht daran wieder zurückzukehren. Sie hatte das Dorfleben, die Schikanen der Schwiegermutter und die Gewalt ihres Ehemanns nun endlich hinter sich gelassen. Als ihre Kinder zur Schule gingen bekam sie Kundschaft. Von Männern. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber kein Gefühl mehr für ihren Körper zu haben. Viele Männer waren sehr grob. Nahmen oft selbst das Kondom ab um in Serpil zu kommen. Anfangs konnte sie sich die Gesichter der Männer noch merken. Irgendwann nicht mehr. Sehr schnell konnte sie die Schulden bei ihrem Kredithai zurückzahlen. Irgendwann endlich in eine größere Wohnung ziehen. Ihren Kindern endlich Spielsachen und genug zu Essen kaufen.

Vor einigen Jahren hat sie den Kontakt zu ihrer Mutter wieder aufgebaut. Sie telefonieren. Ihr Ehemann hat die Suche immer noch nicht aufgegeben. Auch den Alkohol nicht. Seit einigen Jahren soll er nun auch noch hohe Spielschulden haben und seine Familie soll noch sein einziger Schutz vor seinen Gläubigern sein. Serpil arbeitet nun in der Disco Cerkes Kız im Istanbuler Stadtlandkreis Kartal. Auf Wunsch der Männer darf sie an den Tisch kommen, um sie zum Trinken zu animieren. Ihren stark verdünnten Raki müssen ihr die Männer für 20 Lira (8 Euro) ausgeben. Ein Teil davon ist ihr Einkommen. Genehmen Männer steckt sie ihre Handynummer für private Treffen am nächsten Tag zu.

Sie ist mit die älteste Dame im Lokal. Als ich den Raum betrete werde ich von den Bedienungen im Mafialook herzlichst begrüßt. Mir wird sofort eine Frau angeboten. Doch ich lehne ab. Ich will eigentlich nur ein Bier genießen und ein wenig zur Ruhe kommen. Die Frauen wundern sich darüber, dass ich alleine am Tisch sitze. So wurde Serpil vorgeschickt um zu sondieren wieso das so sei. Nach interessanten zwei Stunden wird es knapp mit dem Geld bei mir und Serpil muss aufstehen. Sie wünscht mir Glück auf dem Taksim. Ich solle auf mich aufpassen. Wie viele Menschen der Schwarzmeerregion trägt sie das Herz auf der Zunge.

In ihrem Leben hat Serpil noch nie gewählt. Politik hat in ihrem Leben noch nie eine Rolle gespielt. Für sie zählte das Entkommen aus patriarchalen Strukturen und später das nackte Überleben in einer vom Kapitalismus entfesselten Ellbogengesellschaft innerhalb einer Großstadt. Bei der nächsten Wahl wird sie zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. Gegen die Regierung und für die Zukunft ihrer beiden Söhne.

Der türkische Staat mordet, erneut!

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Im Landkreis Lice/Pîran (Provinz Diyarbakır/Amed) ist bei Protesten gegen den Erweiterungsbau einer Polizeistation am Freitag der 18-jährige Medeni Yıldırım durch Einheiten der paramilitärischen Jandarma umgebracht worden. Es gibt mindestens neun Verletzte, davon zwei schwer. Als Rechtfertigung wird angegeben, dass eine Gruppe von bis zu 250 Menschen drei Zelte der Arbeiter gestürmt und angezündet haben. Es sei in die Luft geschossen worden. Die Bevölkerung akzeptiert diese Begründung nicht und strömt zuhauf auf die Straßen und Plätze. Die Hauptverkehrverbindung zwischen den Städten Lice und Bingöl/Cewlig ist gesperrt.

Medeni Yıldırım war mit 18 Jahren erst am Anfang seines Lebens

Medeni Yıldırım war mit 18 Jahren erst am Anfang seines Lebens

Die großen Nachrichtensender in der Türkei schweigen. Erst als auch in Städten mit überwiegend türkischer Mehrheitsbevölkerung die Proteste beginnen, werden erste Meldungen gesendet. Die größte Demonstration finden noch am Freitag in Istanbul im asiatischen Kadıköy statt. Über 5.000 Menschen schwenken türkische Fahnen und skandieren auf kurdisch „Bijî biratiya gelan“ (Lang lebe die Brüderlichkeit der Völker). Die, am Samstag auf dem Taksim-Platz in Istanbul geplante, Wasserschlacht wird aus Trauer und Respekt von der Taksim-Widerstandsplattform um eine Woche verschoben.

In einer Stellungnahme äußert der von der Zentralregierung eingesetzte Landrat von Lice Özer Özbek, dass wenn geschossen wurde die DemonstrantInnen womöglich auf sich selber geschossen haben. Als Reaktion darauf legt umgehend die revolutionäre Internetgruppe RedHack die Homepage des Landratsamts von Lice lahm. Fast zur gleichen Zeit werden von der Polizei in Ankara erneut 13 Personen wegen den Gezi-Park-Protesten verhaftet.

Friedensprozess in Gefahr

Nicht umsonst übernehmen in den ländlichen Gebieten der Türkei die paramilitärischen Einheiten der Jandarma die Aufgaben der Zentralpolizei. Gerade in den kurdischen Regionen ist der Freiheitsdrang der kurdischen Bevölkerung nicht anders zu bändigen. Die Unterstützung für die verbotene Partiya Karkerên Kurdistan – Arbeiterpartei Kurdistans – (PKK) und legale Barış ve Demokrasi Partisi – Partei des Friedens und der Demokratie – (BDP) nur mit massiver Gewalt unter Kontrolle zu halten. Alle bisherigen türkischen Regierungen antworteten auf die Unterstützung der Menschen für die kurdische Freiheitsbewegung stets mit dem Ausweitung von repressiven, paramilitärischen und militärischen Strukturen. Gleiches geschieht auch unter der despotischen Regierung von Erdoğan.

Logo der Partei des Friedens und der Demokratie BDP – Fotoquelle: Wikipedia

Logo der Partei des Friedens und der Demokratie BDP – Fotoquelle: Wikipedia

Gleichzeitig verlangt die Regierung von der kurdischen Freiheitsbewegung eine weitere einseitige Fortsetzung der Friedensbemühungen zur Beilegung des – seit den 1970er Jahren laufenden – bewaffneten Konflikts. Die Guerillaeinheiten der PKK sollen ihren Abzug von den türkischen Gebieten endlich vollenden. Die BDP als politischer Arm der kurdischen Freiheitsbewegung riskiert viel mit ihrer Zustimmung zum Friedens- und Demokratisierungsprozess, denn Guerillaeinheiten der PKK brachten erst jüngst die Region um Şırnak/Şirnex unter ihre Kontrolle und drohten weitere Gebiete zu befreien. Davon sichtlich beeindruckt stimmte die Regierung weiteren Gesprächen zu. Mit dem seit April 2013 eingeleiteten Rückzug der Guerilla, über die Grenze in die irakischen Kandil-Berge, droht den Menschen nun wieder eine komplette Schutzlosigkeit vor der repressiven und mordenden Gewalt durch Befehlsempfänger des türkischen Staats.

Der mit dem Friedensprozess einzuleitende Demokratisierungsprozess in der Türkei wird weiterhin von der Regierung blockiert. So möchte die Staatsregierung weiterhin die kurdische Muttersprache nicht in den Schulen zulassen. Auch steht die Senkung der 10 Prozenthürde bei Parlamentswahlen nicht zur Diskussion. Damit hält auch diese Regierung weiterhin an einem der Geburtsfehler der Türkei vor 90 Jahren fest. Das Ziel der Schaffung einer gesamttürkischen Identität. Um diesem Ziel näher zu kommen, hat es in der Zeit seit der Gründung der Republik wahrlich nicht an meist gewaltsamen Assimilierungsversuchen gemangelt. Doch eine gemeinsamen Identität mit einer einzigen Sprache und Religion wird es auch weiterhin nicht geben. Im Gegenteil ist die Türkei heute einmal mehr ein Staat von vielen Sprachen, Religionen und ethnischen Zugehörigkeiten.

„Nichts wie ab in die Stadt“

Bewusst wird die wirtschaftliche Unterentwicklung von Regionen in denen die ethnischen und religiösen Minderheiten der Türkei die Bevölkerungsmehrheit stellt beibehalten. Viele Millionen Menschen haben sich mit dieser staatlich geförderten Diskriminierung abgefunden und sind in den letzten Jahrzehnten in die Slums und Armengürtel der Großstädte gezogen. Vor allem die Bevölkerungszahlen in den Industrie- und Tourismusregionen der Türkei im Westen und Süden des Landes sind kontinuierlich und überdurchschnittlich angewachsen.

Ungebrochen setzt sich dieser Trend der Dorfflucht in die Stadt auch weiterhin fort. Dort erst einmal angekommen verändern die Menschen nachhaltig das soziale und ethnische Gefüge der Kommunen. Denn selbstverständlich bringen die Menschen ihre Kulturen und Traditionen mit in die Stadt. Die Baubranche kommt mit den Neubauten kaum nach. Die Mieten steigen kontinuierlich, bei gleichzeitig stagnierenden sowie sinkenden Löhnen und Gehältern durch ein wachsendes Heer von arbeitswilligen neuen ZuzüglerInnen. Der neoliberale politische Islam forciert diese Entwicklung mit Privatisierungen und sozialen Einschnitten für die Bevölkerung. Ohne vorhandene Lobby werden vor allem die RentnerInnen regelmäßig ein Opfer dieser Politik. Die Gewerkschaften in der Türkei sind schwach und können keine Massen mobilisieren.

Gleichzeitig ist der Bankensektor schon vor Jahren weitgehend dereguliert worden um frisches internationales Kapital anzulocken. Lächerlich niedrige Unternehmens- und Kapitalsteuern versprachen über lange Zeiträume hindurch sehr hohe Renditen. Infolge der Proteste verlieren die Finanzinvestoren nun ihr Vertrauen in den türkischen Markt. Durch die Deregulierung der Finanzmärkte ist der Abzug von Milliarden Dollar innerhalb von wenigen Tagen problemlos möglich. Die türkische Lira verliert schon seit Tagen bedeutsam an Wert. Der Dollarpreis steigt und damit verteuern sich die Importe. Das Leistungsbilanzdefizit droht damit die türkische Wirtschaft noch weiter zu destabilisieren.

Die Menschen haben noch offene Rechnungen mit dem Diktator

Die Menschen haben noch offene Rechnungen mit dem Diktator

Die Regierung, nicht fähig die eigenen Fehler zu sehen, beschuldigt eine angebliche „Zinslobby“ und ausländischen Mächte hinten den Protesten. Premierminister Erdoğan schimpft neuerdings auch über die ausländische Presse und Medien. CNN International und Reuters müssen als Ziel seiner Schimpftiraden herhalten. Doch für die Probleme des Landes trägt die Regierung die politische Verantwortung. Die Ansetzung von Neuwahlen wäre eine Möglichkeit um den gesellschaftlichen Frieden wieder herzustellen. Doch Diktatoren treten bekanntlich nicht zurück, sie werden zurückgetreten.

„Allah will es so!“

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Die Islamisierung der Türkei wird von der Regierung weiterhin stichpunktartig fortgesetzt. Je nach lokalen Gegebenheiten wird in den Provinzen geschickt nach Möglichkeiten gesucht die Umgestaltung des Landes in eine islamische Republik weiter voran zu treiben.

Hat Ibrahim Özkul einen direkten Draht zu Allah?

Hat Ibrahim Özkul einen direkten Draht zu Allah?

Jüngstes Beispiel dafür ist eine Rede von Ibrahim Özkul: Der zuständige Direktor der Nationalen Bildungsbehörde in der Provinz Afyon offenbarte sichtlich überraschten ReligionslehrerInnen, dass sie in Zukunft in den Schulen zu bestimmen hätten. Sie müssten in Zukunft von keinen SchuldirektorInnen mehr Anweisungen akzeptieren. Im Gegenteil hätten die SchuldirektorInnen keinen Schritt mehr ohne die ReligionslehrerInnen zu gehen. Die SchuldirektorInnen hätten dies leider zu akzeptieren. Alle Arbeiten und schulischen Angelegenheiten würden ab sofort unter der Kontrolle der ReligionslehrerInnen passieren. Dies sei ein Wunsch des Gouverneursamts von Afyon, des Bildungsministers, unser Wunsch und auch der Wunsch von Allah! WTF? Von Allah?

Nachdem immer noch genügend säkulare Kräfte vorhanden sind, geht ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit. Nun heißt es jedoch diese Aussagen seien so niemals gefallen. Der Parlamentabgeordnete der rechtssozialdemokratischen Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei – (CHP) Ahmet Toptaş aus Afyonkarahisar meldete sich bei Kanal B zu Wort und kündigte an eine Tonbandaufzeichnung an das Bildungsministerium nach Ankara schicken zu wollen. Das Ministerium solle daraufhin den Rest erledigen. Mit einer aufgeklärten Regierung an der Spitze des Staats müsste sich Ibrahim Özkul nun fürchten. Seine Anstellung wäre in Gefahr. In der Türkei ticken die Uhren jedoch in Richtung Reaktion.

Eine Partei schafft sich seinen Geheimdienst

Logo des türkischen Geheimdienstes MIT - Fotoquelle: Wikipedia

Logo des türkischen Geheimdienstes MIT – Fotoquelle: Wikipedia

Die direkt dem Ministerpräsidialamt der Türkei unterstellte Millî İstihbarat Teşkilâtı – Nationaler Nachrichtendienst – (MIT) steht eine Strukturreform mit Personalausbau sowie Ausweitung der Befugnisse bevor. Damit versucht die Regierungspartei den Polizei-, Geheimdieste-, Militärpolizei und Soldatenstaat Türkei auch weiterhin auf die Belange und Bedürfnisse des politischen Islams anzupassen.

Jedoch nicht für den „Schutz des türkischen Territoriums, der türkischen Bevölkerung, die Aufrechterhaltung der staatlichen Integrität, die Wahrung des Fortbestehens, der Unabhängigkeit und der Sicherheit der Türkei sowie deren Verfassung und der verfassungskonformen Staatsordnung. Auch nicht die Spionageabwehr sowie die Abwehr sonstiger subversiver Aktivitäten, die sich gegen die Türkei richten“, wie es gemäß Gesetz Nr. 2937 vom 1. Januar 1984 als Aufgaben des Geheimdienste festgelegt wurde. Vielmehr dient die Reform einzig dafür die Herrschaft einer Einparteiendiktatur für die nächsten 10 Jahre abzusichern. Jegliche Opposition zur Herrschaftspolitik der Regierung soll mit dem Obus einer illegalen, gar terroristischen Meinung, belegt und damit kriminalisiert werden. Die Gefängnisse der Türkei sollen damit auch weiterhin voll ausgelastet bleiben. Dabei sind jetzt schon vorhandene Überbelegungen eine Verletzung der Menschenwürde der Inhaftierten.

Der Geheimdienst soll in Zukunft außerhalb der Gesetze stehen und einzig dem Premierminister rechenschaftsschuldig sein. Die Befugnisse werden um weitere polizeiliche Aufgaben erweitert. Maßnahmen, wie bspw. Telefonüberwachung, werden nicht von der Justiz genehmigungspflichtig sein. Die Trennung von Polizei und Geheimdiensten, wie sie in Deutschland historisch bedingt vorhanden ist, wird es in Kürze auch offiziell auf dem Papier nicht mehr geben. Damit wird die türkische Regierung jedoch nur die bereits praktizierten Vorgehensweisen der Geheimdienste vor dem Gesetz legalisieren. Sie wird damit ein Stück weit mehr Unrecht zu Recht machen.

Die Türkei hatte nach dem 2. Weltkrieg bereits drei Militärdiktaturen zu überstehen. Unter Premierminister Erdoğan entsteht nun in aller Härte und Öffentlichkeit eine zivile Diktatur an der Spitze des Staates. Mit der Schaffung dieser Ministerpräsidentengarde droht der Opposition ein sehr unglückliches Schicksal mit Entführungen, Folter, Haft und Mord. Die paramilitärischen Revolutionsgarden im Iran lassen grüßen.

„Mein Gewissen ist rein“

Die landesweiten Proteste wegen der Freilassung des Polizisten Ahmet Sahbaz gehen weiter. Er wird beschuldigt, den 26-jährigen Arbeiter Ethem Sarısülük umgebracht zu haben. Am Tag der Beerdigung des Mordopfers am 16. Juni 2013 wurde der Polizist aus der Untersuchungshaft entlassen. Der zuständige Richter der 13. Großen Strafkammer für schwere Verbrechen in Ankara, Mustafa Aydın, äußerte sich nun erstmals öffentlich zu seiner Entscheidung. Er habe nach Beweislage entschieden. Sein Gewissen sei rein. Er lasse sich auch von Millionen nicht beeinflussen. Der Polizist habe aus Angst um sein Leben in die Luft geschossen. Ein Gutachten weise 37 Steinwürfe nach.

Derweil meldete sich mit Nihal Yamam die Ehefrau eines weiteren Opfers von Polizeigewalt. Die Tat ereignete sich am 4. Juni 2013 im asiatischen Istanbuler Stadtlandkreis Sancaktepe. Der 32-jährige Chauffeur Hakan Yamam verlor dabei ein Augenlicht. Er könne seitdem auch nicht mehr sprechen. Es sei ein Wunder, dass ihr Mann noch lebe.

Hakan Yamam lebt, aber wie?

Hakan Yamam lebt, aber wie?

Die Anwältin Elif Eylem Kınacılar unterstrich in einer Stellungnahme, dass Hakan Yamam kein Demonstrant gewesen sei. Unabhängig davon würde kein Mensch so eine Behandlung verdienen. Er habe zum Feierabend sein Auto abgestellt und sei auf dem Nachhauseweg von einer Gasgranate auf der rechten Bauchseite getroffen worden. Ein großer runder Abdruck auf seinem Körper bestätigte dies. Daraufhin habe er sich vor Schmerzen auf dem Boden gekrümmt. Fünf Polizisten seien über ihn hergefallen. Er sei über den Boden geschleift worden. Mit einem harten Gegenstand habe man ihm sein Auge genommen. Wohl mit der Vermutung er sei des Todes habe man ihn einfach liegen lassen. Er habe sich auf dem Boden zu den kämpfenden Menschen geschleppt und sei daraufhin ins Krankenhaus gekommen. Dort habe er eine schwere Operation am Kopf überstanden. Die beiden Töchter Özlem (13 Jahre) und Sıla (7 Jahre) und seine Frau Nihal würden schwer leiden. Man habe vor, bis zur letzten Instanz zu gehen um dieses Verbrechen zu bestrafen. Der Familie ist dies zu gönnen. Doch der Gang nach Straßburg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist wohl unvermeidlich.

Mediale Lügen in Dauerschleife

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Die Menschen sind wütend. Der 26-jährige Arbeiter Ethem Sarısülük wurde bei Protesten gegen die türkische Regierung von einem Polizisten am 1. Juni 2013 in den Kopf geschossen. Umfangreiches Videomaterial zeigt die Schüsse des Polizisten Ahmet Sahbaz in die Luft und das Umfallen von Ethem. Über die gesamte Zeit des Kampfes von Ethem mit dem Tod weigert sich die Zentralbehörde der Polizei den Namen des Schützen an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Auch interne Ermittlungen werden nicht eingeleitet.

Schon jetzt unsterblich - Ethem Sarısülük

Schon jetzt unsterblich – Ethem Sarısülük – Fotoquelle: Empati/Facebook

Am 14. Juni 2013 wird Ethem Sarısülük von den Ärzten für tot erklärt. Sein Beerdigungskonvoi in seine Heimatgemeinde wird zwei Tage später bereits in Ankara von der Polizei an der Weiterfahrt gehindert. Der Wagen mit dem Leichnam und die – an der Beerdigung teilnehmenden – Menschen werden mit Wasserwerfern angegriffen. Am gleichen Tag wird sein Mörder aus der Untersuchungshaft entlassen – damit gar Ethem, durch die 13. Große Strafkammer für schwere Verbrechen in Ankara, am 16. Juni 2013 ein zweites Mal ermordet.

Proteste gegen regierungsgelenkte Medien nehmen zu

"Nichts sehen und nichts hören, aber Lügen verbreiten"

„Nichts sehen und nichts hören, aber massenhaft Lügen verbreiten“ – Fotoquelle: TGB

Seine Familie, Angehörigen, FreundInnen, KollegInnen, GenossInnen sowie die gesamte Protestbewegung im ganzen Land protestieren seitdem täglich auf den Straßen und Plätzen um Gerechtigkeit einzufordern. Nach Tagen der öffentlichen Anklagen gegen die Gerichtsentscheidung, durch verschiedene Organisationen bis hin zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, soll Ethem Sarısülük nun ein drittes Mal umgebracht werden. Regierungsnahe Medien verbreiten unwahre Behauptungen und Lügen über den Tatablauf und das Mordopfer. So behaupten die regierungsnahen Zeitungen Takvim und Sabah sowie der private Sender ATV, dass Ethem eine türkische Fahne verbrannt haben soll. Sein Tod sei nur logische Konsequenz einer solchen Tat. Mit diesem Vorwurf soll die ganze Protestbewegung als „vaterlandslose GesellInnen und VerräterInnen“ ins Mark getroffen werden. Denn es handelt sich hierbei für türkische Verhältnisse um einen sehr schwerwiegenden und ehrverletzenden Vorwurf.

Der Premierminister rief, bei seiner Kundgebungstour unter dem Titel „Respekt dem nationalen Willen“ zwischen dem 15. bis 23. Juni 2013 in den Städten Ankara, Istanbul, Kayseri, Samsun und Erzurum, nicht ohne Hintergedanken, seine UnterstützerInnen dazu auf eine Fahnenkampagne zu beginnen. Es sei nun die Zeit gekommen Parteifahnen wegzustecken und allein die türkische Nationalflagge für die demokratisch gewählte Regierung zu vereinnahmen. Die Zeichen und Symbole des türkischen Staates dürften nicht den „illegalen Organisationen“ innerhalb der Gezi-Park-ProtestlerInnen überlassen werden.

Mit diesem erneuten Versuch die Protestbewegung spalten und schwächen zu wollen versucht der Premierminister vor allem das Klientel der rechtssozialdemokratischen Cumhuriyet Halk Partisi – Republikanische Volkspartei – (CHP) und der rechtsradikalen Milliyetçi Hareket Partisi – Partei der Nationalistischen Bewegung – (MHP) gleichermaßen ansprechen zu wollen. Die CHP ging auf die Vorwürfe, mit angeblich „illegalen Organisationen“ zu paktieren und die Proteste insgeheim zu lenken, gar nicht erst ein. Ihr Parteivorsitzender Kemal Kılıçdaroğlu machte stattdessen der Regierung selber zum Vorwurf sich mit „illegalen Organisationen“ an einen Tisch zu setzen. Damit unterstrich die CHP einmal mehr ihre rechtspopulistische Gegnerschaft zu Friedensverhandlungen der türkischen Regierung mit der Partiya Karkerên Kurdistan – Arbeiterpartei Kurdistans – (PKK) zur Beilegung eines seit den 1970er Jahren laufenden bewaffneten Konflikts. Die MHP rief einmal mehr ihre Mitglieder dazu auf sich nicht an den Protesten zu beteiligen. Der Staat müsse noch härter und entschiedener gegen die „illegalen Organisationen“ vorgehen.

Auffällig war bei den öffentlichen Auftritten des Premierministers auch eine riesige Fahne mit dem Abbild des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Sie hingen an hochstockigen Häusern herunter und waren immer gut sichtbar für die Kameras der Fernsehsender. Meist ein wenig nach hinten versetzt, jedoch in der gleichen Größenordnung, hing zusätzlich ein Bildnis des Premierministers ebenfalls an den Häuserfassaden herunter. Von den Menschen wird dieser Versuch, sich als derzeitiger Premierminister auf gleicher Höhe und Größe wie der Staatsgründer zu präsentieren, als Majestätsbeleidigung aufgenommen. Noch immer ist der Personenkult um Mustafa Kemal Atatürk sehr stark in der Bevölkerung verankert. Die Parole „Mustafa Kemal’in Askerleriyiz!“ (Wir sind Mustafa Kemals Soldaten!) sehr beliebt bei den ProtestlerInnen.

„Laßt unsere Kinder frei!“

Sayfı Sarısülük ist nicht alleine. Die Menschen scharen sich um sie. Quelle: Empati/Facebook

Sayfı Sarısülük ist nicht alleine. Die Menschen scharen sich um sie und fordern Gerechtigkkeit. Fotoquelle: Empati/Facebook

In Ankara organisieren sich die Mütter der Inhaftierten. Unter ihnen auch die Mutter von Ethem Sarısülük. Sie hält eine bewegende Rede über den Verlust ihres Sohnes und fordert die Freilassung aller Gefangenen. Laut der türkischen Kinderschutzstiftung Gündem Çocuk – Agenda Kind – sind allein zwischen dem 28. Mai und dem 25. Juni 2013 mindestens 294 Kinder verhaftet worden. Ein Kind wurde durch eine Kugel aus einer Polizeiwaffe in den Rücken verletzt. Unterstützung bekommen sie von den „Müttern der Mordopfer des Brandanschlags von Sivas“ vom 2. Juli 1993. Beim besagten Brandanschlag griff ein nationalisch-religiöser Mob ein alevitisches Festival an und setzte das Madımak-Hotel vor den Augen der Polizei in Brand.

Weiterhin in Dauerschleife wiederholte unwahre Behauptungen und Lügen der Woche sind: in der Moschee wurde Alkohol getrunken, unsere Polizisten wurden umgebracht, in dieser Nacht gab es keine Auseinandersetzungen, es wurden 2,8 Millionen Bäume gepflanzt, die „Zinslobby“ ist schuld, Ethem Sarısülük ist von den eigenen Leuten umgebracht worden, Ethem Sarısülük war ein Terrorist, bei den Auseinandersetzungen um den Gezi-Park wurde niemand verletzt, die chemischen Zusatzstoffe in den Wasserwerfern sind nicht gesundheitsgefährdend und die Polizei hat nicht geschossen.

Ausländische Mächte am Werk

Mehmet Ali Alabora wehrt sich gegen Spionagevorwürfe - Fotoquelle: sol Haber

Mehmet Ali Alabora wehrt sich gegen Spionagevorwürfe – Fotoquelle: sol Haber

Der Krieg in den Medien zur Unterstützung der Regierung wird mit harten Bandagen geführt. So muss sich der Schauspieler und Unterstützer der Proteste Mehmet Ali Alabora mehrmals von Melih Gökçek, Bürgermeister von Ankara, vorwerfen lassen er stehe in Verbindung zu internationalen Organisationen wie Otpor und habe vor die Regierung zu stürzen. Otpor ist ursprünglich eine serbische Organisation, die weltweit Oppositionelle für vermeintliche Revolutionen schult. Finanziert wird das Otpor-Netzwerk von sechs US-amerikanischen Organisationen. Darunter das Open Society Institute International Renaissance Foundation, die Organisationen des umtriebigen Multimillionärs George Soros oder Freedom House, eine bereits 1941 gegründete US-amerikanische „Nichtregierungsorganisation“ unter Leitung des früheren CIA-Direktors James Woolsey. Der angegangene Schauspieler gab an einzig eine Mitgliedschaft im Internationalen Schauspielerverband (FIA) zu besitzen.

Die Menschen kennen solche Verleumdungen bereits. Sie kündigen an ihre Demonstrationen vor den Verlagshäusern der Zeitungen und Zentralen der Fernsehanstalten solange durchzuführen bis die Lügen gegen Ethem Sarısülük zurückgenommen werden. Nach den Diskussionsforen um 23 Uhr starten Demozüge. An der größten Demonstration beteiligen sich allein heute in Beşiktaş/Istanbul über 6.000 Menschen. Bereits vor einem der vielen Foren in den Parkanlagen und öffentlichen Plätzen um 21 Uhr stoppte ein Demozug aus dem Stadtteilviertel Cihangir/Stadtlandkreis Beyoğlu vor dem Takvim/Sabah/ATV-Gebäude.

Thema in den Foren ist die bisher passive Rolle der größten türkischen Gewerkschaft Türkiye İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation von Arbeitergewerkschaften der Türkei – (Türk-İş) während den Protesten. Sie hat mit 2,13 Millionen Mitglied die größte organisierte Schlagkraft der ArbeiterInnenklasse. Vor allem die Gewerkschaft Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei – (DİSK) hat ein taktisches Eigeninteresse daran die „Kollaboration“ mit der Regierung in den Foren zu thematisieren. Zurecht, wie viele Menschen meinen.

Kritische Fragen sind unerwünscht

Der Journalist Musa Ağacık wird in der Nähe des Premierministers zusammengeschlagen

Der Journalist Musa Ağacık wird in der Nähe des Premierministers zusammengeschlagen

Premierminister Erdoğan traf sich mit dem Generalstabschef und Oberkommandierenden des Heeres General Necdet Özel zur wöchentlichen Aussprache. Die zweistündige Unterhaltung fand im Istanbuler Büro des Premierministers im Dolmabahçe-Palast statt. Einzelheiten des Gesprächs sind nicht bekannt gegeben worden. Das Foto im Anschluss soll der Bevölkerung zeigen, dass die Armee auch weiterhin hinter der Regierung steht. Die Regierungspartei kündigt derweil an in Zukunft die Jugend besser verstehen zu wollen. Sehr aufmerksam von ihr. Nur einige Stunden davor fanden in den frühen Morgenstunden wieder Verhaftungen in Izmir und Eskişehir statt. Die polizeilichen Razzien richten sich gegen linke Organisationen. Gegen sieben Mitglieder der Fußball-Ultras Beşiktaş Çarşı Grubu wurden Haftbefehle ausgestellt. Als Reaktionen organisieren die Menschen weiterhin Demonstrationen und Kundgebungen.

Im Anschluss an das Treffen mit dem Generalstabschef nahm der Premierminister den Bericht des „Rat der Weisen“ entgegen. Dieser Zusammenschluss von ursprünglich 63 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hatte sich im April 2013 auf Anweisung des Premierministers zusammengetan, um ihn bei der Lösung des Konflikts mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu unterstützten. Allesamt nicht Politiker, besteht der Rat aus überwiegend regierungsnahen JournalistInnen und SchausspielerInnen. Die Nichtberufung des türkischen Nobelpreisträgers für Literatur Orhan Pamuk in die Kommission war bei kurdischen PolitikerInnen auf Kritik gestoßen. Vor einigen Tagen traten nun aus Protest zur staatlichen Gewalt gegen die Menschen zwei Kommissionsmitglieder zurück. Darunter der renommierte Verleger und Publizist Murat Belge.

In sieben Regionen aufgeteilte Arbeitskreise sollten die Stimmung der Bevölkerung zum Friedensprozess ausloten und sich mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und lokalen AmtsträgerInnen treffen um Überzeugungsarbeit zu leisten. Laut Hüseyin Çelik, Sprecher der Regierungspartei, soll die Unterstützung in der Bevölkerung bei 70 Prozent liegen.

Als der Journalist Musa Ağacık vom „Rat der Weisen“ wissen wollte, ob sie wirklich daran glauben würden, dass mit einem Premierminister, welcher die Polizeigewalt gegen Menschen infolge der Gezi-Park-Proteste verteidige, ein gesellschaftlicher Friede möglich sei, wurde er von den Sicherheitsleuten des Premierministers abgedrängt und zusammengeschlagen. Der Çağdaş Gazeteciler Derneği – Verein zeitgenössischer Journalisten – (CGD) forderte umgehend die Einleitung von Ermittlung und Bestrafung der dafür verantwortlichen Personen.

Gezi-Park, 25.06.2013, Berufsrisiko

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Im letzten Jahr kamen weltweit 135 JournalistInnen ums Leben. 73 JournalistInnen mussten aus ihren Ländern fliehen. Die meisten inhaftierten JournalistInnen und BloggerInnen zählte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ im letzten Jahr in der Türkei. Mindestens 42 JournalistInnen und vier MedienmitarbeiterInnen befanden sich im Gefängnis. Es sind die höchsten Zahlen seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1983.

Mit Internetfiltern sind über 15.000 Internetseiten durch Gerichtsbeschluss oder durch willkürliche Sperren der Kommunikationsbehörde gesperrt worden. Damit liegt das Land, auf der 179 Länder umfassenden Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 154. Vor allem unter dem Vorwand den Terrorismus zu unterstützen, müssen JournalistInnen lange Zeit ohne einen Prozess in Untersuchungshaft sitzen. Verhaftungen, teilweise illegale Telefonabhörungen und die Missachtung der Geheimhaltung von journalistischen Quellen schüchtern immer mehr ReporterInnen ein und behindern eine objektive Berichterstattung. Auch seit dem Ausbruch der Gezi-Park-Proteste wurden wieder JournalistInnen gezielt von der Polizei bedroht, geschlagen, verletzt und verhaftet.

Namen? Bitte! Durch Pfeffergasgranaten, Tränengas, Gummigeschosse oder Wasserwerfer verletzt wurden u.a.: Ismail Afacan von der Zeitung Günlük Evrensel, Onur Emre vom Blatt Sol, Mesut Ciftci und sein Kameramann Ismail Velioglu vom privaten Fernsehsender ATV, Olgu Kundakci von der Zeitung Birgün, der Reuters-Fotograf Osman Orsal und der Hürriyet-Fotograf Selcuk Samiloglu. Zusammengeschlagen wurden der Sol-Reporter, Fatos Kalacay sowie Ugur Can von der Nachrichtenagentur Dogan und Tugba Tekerek von der Zeitung Taraf. Dies sind nur einige von vielen bereits bekannten Namen. Zu viele JournalistInnen erstatten jedoch aus Angst vor Übergriffen auf die Familie keine Anzeige oder machen ihr Leiden öffentlich.

Die Angst der Fernsehanstalten, die Geschehnisse auf den Straßen und Plätzen der Türkei zu zeigen, um der Bevölkerung eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen, ist also verständlich. Sofort würde die staatliche Rundfunkbehörde reagieren und eine Strafe aussprechen. Geldstrafen bis hin zu einem Lizenzentzug, schweben in einem permanenten Drohzustand wie ein Damoklesschwert über den ausgestrahlten Programmen der Sender. Stattdessen werden Dokumentationen und Filme gezeigt oder – wenn man sich anbiedern möchte – jede mögliche Rede des Ministerpräsidenten. Mit dieser Omnipräsenz in den Medien hat es die Regierung sehr leicht, ihre Meinung zu den Protesten einem breiten Publikum in einer Dauerberieselung zugänglich zu machen. Der EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle liegt deshalb mit seiner Einschätzung, dass sich die Medien in der Türkei bezüglich der Berichterstattung über die laufenden Proteste gegen die Regierung, einer Selbstzensur unterzogen haben, richtig. Nicht nur einmal versammelten sich Menschen zu einer Kundgebung, symbolisch für alle stummen Sender, vor dem Sendezentrum des regierungsnahen Senders NTV, um für eine faire Berichterstattung der Sender NTV, CNN Türk, Haber Türk TV, Kanal D, ATV, Star TV, Show TV und TRT sowie der Zeitungen Star, Sabah und Haber Türk zu demonstrieren. Mittlerweile haben sogar internationale Firmen wie Ikea, Vodafone und Ford angekündigt keine Werbung mehr auf den (selbst-)zensierten türkischen Kanäle ausstrahlen zu wollen, so die liberale Zeitung Radikal.

Als alternative Sender haben Ulusal TV, dessen Homepage heute gehackt wurde und Halk TV immer mehr ZuschauerInnen zu verzeichnen. Nicht nur dies. Die willkürlichen Geldstrafen der staatlichen Rundfunkbehörde zahlen die Menschen. Die Sender haben dazu Hotlines gestartet. Bei einem Anruf wird eine Gebühr von 4 Lira auf der nächsten Telefonrechnung erscheinen. Damit schaffen es diese Sender auch weiterhin ihre Berichterstattung aufrecht zu erhalten. Für die anrufenden Menschen sind diese Sender wichtig, denn hier werden keine Kochsendungen, Berichte über Pinguine oder Quizshows gezeigt, während auf den Straßen und Plätzen um die Zukunft des Landes gekämpft wird. Die Sender senden meist live und lassen die ProtestlerInnen zu Wort kommen. Fernsehen ist auch deshalb wichtig, weil in der Türkei, anders als in Europa, die Zeitungen und ihre Online-Ausgaben kein Massenpublikum erreichen. Um auch aus entfernten Landstrichen per Liveübertragung berichten zu können hat der Sender Ulusal TV eine Kampagne zum Kauf von sechs 3G-Kameras gestartet. Hier kann der Kauf unterstützt werden.

Die Lage bei den Printmedien ist nicht viel besser. Erst vor zwei Tagen wurden beim Boulevardblatt Akşam die Journalistinnen Tuğçe Tatari, Nilay Örnek und Sevim Gözay entlassen. Der Chefredakteur İsmail Küçükkaya zu einer Kündigung genötigt. Der seit Mai 2013 neue Eigentümer, der Staatsfond Tasarruf Mevduatı Sigorta Fonu – Fond zur Versicherung von Sparkapital – (TMSF), setze mit Mehmet Ocaktan einen ehemaligen Parlamentsangeordneten der Regierungspartei aus Bursa an die Spitze der Zeitung. Dieser war bis dato Chefredakteur der regierungsnahen Tageszeitung Sabah. Hinter den Entlassungen und der Neubesetzung stehen politische Gründe.

Die ehemals der türkischen Zentralbank untergeordnete Finanzholding TMSF untersteht mittlerweile direkt dem Ministerpräsidenten. Mit diesem Mischunternehmen hat es die Regierung in den letzten Jahren geschickt geschafft etliche Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender und Radiosender unter ihre Kontrolle zu bekommen. Sogar der Bezahl-Fernsehsender Digitürk, mit über 170 Sendern, darunter die 1. türkische Fußballliga Süperlig, ist seit 2013 in staatlicher Hand. Oft wegen Überschuldung verstaatlicht, wurden viele Medien, jedoch nicht alle, nach einer Zeit wieder privatisiert. Wie mensch sich an dieser Stelle vielleicht schon denken kann, gingen die Vergaben an Unternehmen mit regierungsnahen Leuten an den Spitze. Veruntreuung von staatlichen Geldern und Korruption gehen hier in aller Öffentlichkeit Hand in Hand.

Der landesweiten Gedenktag für den ermordeten 26-jährigen Arbeiter Ethem Sarisülük begann in Ankara mit 30 Hausdurchsungen und 23 Verhaftungen. Bei der Abschiedfeier der Anadolu Universität in Eskişehir verlangten 5.200 Menschen den Rücktritt der Regierung. Seit 19 Uhr versammeln sich im ganzen Land wieder Tausende von Menschen zu Kundgebungen und Versammlungen. Auf dem Taksim läuft ein bisher ungestörter Sitzstreik. In Ankara greifen Polizisten erneut ab 23 Uhr die Menschen im Stadtlandkreis Dikmen an. Eine friedliche Demonstration wurde dadurch verhindert. Im Stadtlandkreis Keçiören/Ankara, hier hat der Premierminister sei Haus, wurden ProtestlerInnen von einer Drei-Mann-Gruppe angegriffen, dabei ein Protestler am Arm verletzt.

In einem Artikel in der Zeitung Cumhuriyet berichtet die Mutter Derya Aydoğdu aus Ankara von der Verhaftung ihres 13-jährigen Sohns Alperen Aydoğdu. Um 3.30 Uhr des Vortages war erneut eine Demonstration in Dikmen/Ankara von der Polizei angegriffen worden. Sie habe ihre beiden Söhne aus den Augen verloren, den älteren Sohn aber nach einiger Zeit wieder gefunden. Alperen dagegen sei nicht auffindbar gewesen.

Viermal habe sie insgesamt bei der Polizeizentrale angerufen. Jedes Mal wurde ihr ausgerichtet, dass es sich bei den vier Verhaftungen der Nacht um Erwachsene handelt. Ihr Sohn sei in der Zwischenzeit von einer 45-50-jährigen Polizistin mit Schlägen und Tritten malträtiert worden. Während den Schlägen sei es zu übelsten Beschimpfungen und Beleidigungen gekommen. Weiterhin wollte man ihn zwingen das Polizeiemblem auf der Uniform zu küssen. Als er dies verweigerte sei es wieder zu Schlägen gekommen. Außerdem seien die Aussagen gefallen „Mustafa Kemal’in askerleriyiz diyorsunuz. Gelsin kurtarsın bakalım Mustafa Kemal sizi bizim elimizden“ (Ihr sagt, ihr seid die Soldaten von Mustafa Kemal. Soll doch Mustafa Kemal nun kommen und euch aus unseren Händen befreien) und „Biz Osmanlı’nın torunlarıyız“ (Wir sind die Enkel der Osmanen).

Froh sei sie gewesen als ein Bekannter sie anrief und mitteilte ein Video von der Verhaftung zu haben. Die Mutter habe sich sofort selbst davon überzeugt und erneut die Polizei angerufen. Am Apparat hätte sie sich rechtfertigen müssen, was denn ihr Sohn um diese Uhrzeit auf einer Demo zu suchen hätte. Danach sei ihr Sohn in die Jugendvollzugsanstalt eingefahren und dort von der Staatsanwaltschaft wie ein Terrorist ausgefragt worden. Sie durfte ihn weder sehen, noch vor dem Gefängnis auf ihn warten. Als sie ihren Sohn endlich wieder hatte, verschwieg ihr Sohn die Geschehnisse, um die Mutter damit nicht zu belasten. Doch die Schläge auf den Kopf und die Beine hatten Spuren hinterlassen. Sie werde nun eine Anzeige einreichen. Ihrem Sohn ginge es nicht gut. Er könne die Erlebnisse nicht vergessen. Wegen den Handlungen der Polizisten empfinde er Scham. Ähnliche Fälle von Polizeigewalt gibt es in diesen Tagen überall im Land.

An einer Pressekonferenz der Familie des Ermordeten Ethem Sarisülük mit ihrem Anwalt nahmen gestern auch VertreterInnen der Gewerkschaften Türk Mühendis ve Mimar Odaları Birliği – Türkische Architektenkammer – (TMMOB), Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter – (KESK), Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei – (DISK) und Türk Tabipleri Birliği – Türkischer Ärzteverband – (TTB) teil. Einig waren sich alle Beteiligten in der Ablehnung der Gerichtsentscheidung den Mörder von Ethem Sarisülük aus der U-Haft freizulassen.

Der Premierminister hielt heute wieder eine unmögliche Rede vor seiner Parteifraktion im türkischen Parlament. Neben vielen Wiederholungen und Lügen äußerte er sich zum Angriff der Polizei auf die Menschen im Divan Hotel. Am Tag der Parkräumung hatten sich die fliehenden Menschen ins Hotel geflüchtet. Die Polizei drang ins Hotel ein und griff die Menschen mit Pfeffergasgranaten an. Der Premierminister verurteilte in seiner Rede jedoch erneut nicht die Polizei, sondern die Hotelleitung. Sie hätten den ProtestlerInnen ein warmes Bettchen bereitet und ihnen Unterschlupf gewährt. Auch dies sei eine Straftat. Die Staatsanwaltschaft wird diese Rede sicherlich gehört haben und in Kürze aktiv werden.

Eine der permanenten Lügen des Premierministers bei öffentlichen Auftritten ist es zu behaupten in der Dolmabahçe Moschee hätten die ProtestlerInnen Alkohol getrunken. Der Muezzin der Moschee Fuat Yıldırım äußerte sich in einer sechs Stunden dauernden Befragung heute bei der Polizei zu diesem Vorwurf: „Ich bin ein Mann des Glaubens und lüge nicht. Ich habe niemanden Alkohol trinken sehen.“ Der Premierminister wird dies nicht gehört haben. Stattdessen muss der Muezzin nun um seine Anstellung fürchten. Am Abend veröffentlicht der Taksim Widerstand seine neuesten Beschlüsse:

1) Die im Krankenhaus liegenden DemonstrantInnen werden besucht.
2) Die Forderungen werden konstant erneuert.
3) Die Aktionen der Interessensgemeinschaft werden um 21 Uhr fortgesetzt.
4) An den Plätzen der Ortsteile, an denen Foren stattfinden, werden Fluchtwege gebildet.
5) Es wird ein großes und umfangreiches Forum organisiert.
6) Samstags wird die Besetzung am Taksim Gezi Park fortgesetzt und wir werden die Massen zur Beteiligung aufrufen.
7) Die Aktion „Stehende Menschen“ wird verstärkt und verbreitet.

Jeden Abend findet statt:
a) Um 20.00h wird 10-15 Minuten mit den Händen in den Hosentaschen auf der nächstgelegenen Strasse gestanden.
b) Um 21 Uhr wird das „Töpfe und Pfannen – Musical“ dargeboten.
c) Um 22 Uhr werden zu Hause für 5 Minuten die Lichter gelöscht, der Fernseher ausgemacht, das Telefon und der Computer nicht benutzt.

Wir sehen, es geht erst los.

Gezi-Park, 24.06.2013, Genervt

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Wenn die Justiz in einem Land die Interessen der Herrschenden durchsetzt ist sie eine politische, eine parteiliche Instanz. Eine politische, eine parteiliche Instanz hat per se nicht neutral zu sein. Sie wendet die Gesetze und Verordnungen im Dienste ihres sie ernährenden Systems an. Dabei spielt es keine Rolle wie demokratisch oder offensichtlich autoritär, gar diktatorisch, eine Gesellschaft konzipiert ist. Auch der Justizapparat kann ein Eigenleben entwickeln und anfangen sich bestimmten Personen, Parteien oder auch Interessenkreisen anzudienen. In so einer Situation ist es nur eine Frage der Zeit bis aus Unrecht Recht wird.

Es wundert deshalb nicht, wenn, wie heute geschehen, der Mörder des 26-jährigen Arbeiters Ethem Sarisülük aus Ankara nicht verhaftet wurde. Seine Schüsse in die Luft seien Notwehr gewesen. Dieser wegweisende Beschluss des Gerichts kann – verbunden mit den Worten des Ministerpräsidenten von heute, dass die Polizisten einen „heldenhaften Kampf“ führen würden – bereits als Vorurteil angesehen werden. Die Familie äußert deswegen auch in Interviews, dass keine Hoffnung mehr auf ein gerechtes Urteil besteht.

Gleichzeitig hat das Innenministerium eine Ermittlung gegen drei Polizisten in Adana gestartet. Ihnen wird vorgeworfen einen Jugendlichen zusammengeschlagen zu haben. Fotos des Jugendlichen werden in den Nachrichten gezeigt. Er sieht furchtbar aus. Sein ganzes Gesicht ist zugeschwollen. Er wurde grün und blau geschlagen. Solche Ermittlungen werden jedoch gerne einmal gestartet um Aktionismus vorzutäuschen und um die erhitzten Gemüter der Menschen zu beruhigen. Niemand erwartet ein Urteil. Schon gar nicht mit Freiheitsstrafen.

Für den Abend sind überall im Land, wegen der Nichtverhaftung des Polizisten Ahmet Sahbaz Demonstrationen angekündigt. Die Menschen wollen dieses Fehlurteil nicht einfach so akzeptieren. Allein in Kadıköy, im östlichen Teil von Istanbul, gehen 6.000 Menschen auf die Straße. Die Gewerkschaft Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei – (DISK, 350.000 Mitglieder) ruft die Bevölkerung für den nächsten Tag in Ankara und Istanbul zu Demonstrationen auf. Einen erneuten Generalstreik wolle man mit anderen Gewerkschaften diskutieren.

Die Regierung hat derweil Probleme den Menschen die schwächelnde Wirtschaft zu erklären. Allen voran ist der Wertverlust des Lira gegenüber dem Dollar Thema in der Bevölkerung. Mit einem Allzeithoch von zwischenzeitlich 1,9615 TYL (Neue Türkische Lira) am 24. Juni 2013 für einen Dollar wird es langsam eng für die Regierung sich als sicherer Garant eines permanenten Wirtschaftsaufschwungs zu präsentieren. Die Weltbank korrigierte das prognostizierte Wirtschaftswachstum für 2013 bereits um 0,4 Prozent auf 3,6 Prozent. 2011 lag das Wirtschaftswachstum noch bei 8,8 Prozent.

Reales Wachstum findet nicht im Export, sondern auf dem Innenmarkt statt. Die Exporte machen mit 135 Mrd. Dollar nur mehr 17 Prozent der Wirtschaftsleistung von rund 800 Mrd. Dollar aus. Bei weiter sinkender Tendenz. Das Import-Export-Verhältnis ist damit aus den Fugen geraten und führt zu einem steigenden Leistungsbilanzdefizit (Spitzenjahr 2011/75 Mrd. Dollar) in der Handelsbilanz, denn selbst die Wertschöpfung bei den Exporten sind zu zwei Drittel auf Importe angewiesen.

An der Istanbuler Börse verloren seit Ausbruch der Proteste am 28. Mai 2013 türkische Aktien bereits bis zu 25 Prozent ihres Werts. Der Istanbuler Leitindex ISE 100 erholt sich nur langsam und liegt bei um die 72,500 Punkten. Noch am 22. Mai 2013 gab es einen Jahreshöchststand von 92.718 Punkten. Zeitweise lag der Istanbuler Leitindex damit mit bis zu 7 Prozent vor dem deutschen Dax. Mit knapp 5 Prozent vor dem Weltleitindex Dow Jones und 5 Prozentpunkte vor dem britischen FTSE 100. Schon beginnen die Zinsen für Staatsanleihen wieder zu steigen. Die Ratingagenturen Moody`s und Fitch warnen vor negativen Auswirkungen auf die Bewertung des Landes bei andauernden Protesten.

Den Höhenflug der Istanbuler Börse nimmt nun der Ministerpräsident zur Begründung seiner Verschwörungstheorie her. Der „Zinslobby“ und ausländischen Kräften sei die Stärke der türkischen Wirtschaft ein Dorn im Auge gewesen. Sie würden deswegen auch mit hinter den Protesten im Inland stecken. Die gleichen Kräfte würden auch verhindern wollen, dass die Türkei ein Raumfahrtprogramm umsetzt oder die Olympischen Spiele 2020 in Istanbul stattfinden. Da fällt mir ein Lied ein: „Ich mach` mir die Welt, widewide wie sie mir gefällt.“

Auch der Versuch der Regierung im Ausland geparkte Gelder von privaten Anlegern in Höhe von 130 Milliarden Dollar mit einem im Mai 2013 verabschiedeten Gesetzespaket zurückzuholen ist nicht geglückt. Der Transfer der Gelder sollte komplett steuerfrei durchgeführt werden. Das Finanzamt würde keinerlei Prüfungen durchführen. Ein ähnliches Programm hatte zwischen 2008 und 2009 bereits 26,5 Milliarden US-Dollar zurückfließen lassen.

In der Realwirtschaft sehen die Zahlen nicht viel besser aus. Unter der Hand wird die erzwungene kostenlose Bewirtung der Polizeieinheiten in den Cafès, Kiosken und Restaurants kritisiert. Auch die fliegenden Händler sind davon betroffen. Die Polizeieinheiten benehmen sich wie die Herren im Haus. Sie würden in die Läden kommen und sich einfach bedienen. Aus Angst trauen sich die Ladeninhaber nichts zu sagen. Durch Gasangriffe der Polizei in den heutigen Abendstunden wird auch der Fischmarkt in Mitleidenschaft gezogen. Die Beschäftigten sind genervt vor der übertriebenen Reaktion der Regierung.

Die Tourismusbranche in Istanbul leidet besonders unter den Protesten. Knapp 60 Prozent der Hotelreservierungen wurden storniert. Nationale und internationale Kongresse, Messen und Veranstaltungen wurden abgesagt. Die Auslastung des „Großen Basars“ liegt derzeit bei knapp 30 Prozent, denn rund 90 Prozent der KundInnen sind TouristInnen. Urlaubsstornierungen wirken sich deswegen direkt auf die Umsätze in der „Geschlossenen Stadt“ aus. Die türkische Hotel- und Gaststättenvereinigung (TUROB) gibt Auswirkungen in 50 Branchen an und warnt vor Entlassungen.

Der Taksim-Widerstand hat konkrete Forderungen zur Beilegung der Proteste aufgestellt: Einstellung aller Bebauungspläne für den Gezi-Park, die Öffnung alles städtischen Plätze für Kundgebungen und Demonstrationen, das Verbot des Einsatzes von chemischen Kampfstoffen, die Freilassung aller in den vergangenen Wochen festgenommenen DemonstrantInnen sowie die Entlassung der Gouverneure von Istanbul, Ankara, Adana und Hatay, welche für die unverhältnismäßig harten Polizeieinsätze verantwortlich sind.

All diese Forderungen sind nicht illusorisch und erfüllbar. Umso weiter sich der Ministerpräsident dagegen stellt, desto größer wird die Unterstützung für die Proteste werden. Schon jetzt ist eines der beliebtesten Parolen auf den Demonstrationen und Kundgebung eine Kriegserklärung an die Regierung: „Bu daha başlangıç! Mücadeleye devam!“ (Dies ist erst der Anfang! Der Kampf geht weiter!).

Gezi-Park, 23.06.2013, Vorgeführt

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Wenn die Kämpfe hier in Istanbul beginnen, hat man keine Zeit mehr um groß nachzudenken. Innerhalb von wenigen Sekunden gilt es zu entscheiden was zu tun ist. Man kann es wie die Mehrheit der Leute machen und sich schnell entfernen. Man kann allerdings auch an Ort und Stelle bleiben und damit, trotz unkalkulierbaren Risiken für Gesundheit und Leben, eine politische Entscheidung treffen.

Denjenigen Menschen, die sich in den Minuten des Eindringens der Zentralpolizei in die Kundgebung hinein, mit Nelken in der Hand den Polizisten und den Wasserwerfern in den Weg gestellt haben, ist Respekt und Hochachtung zu zollen. Die Menschen haben es erneut geschafft friedlich zu bleiben und gleichzeitig den Provokateuren und den Hitzköpfen in den eigenen Reihen in den Wurfarm zu fallen. Einmal mehr wurde die Polizei, der Gouverneur von Istanbul und die Regierung in Ankara vorgeführt. Für die anschließenden Kämpfe in den vielen Straßen um den Taksim-Platz herum trägt die Regierung die alleinige Verantwortung.

Die Begründung des überforderten Gouverneurs in einer Stellungnahme, wonach der Verkehrfluss wieder hergestellt werden musste, ist vorgeschoben. Die Regierung beharrt auch weiterhin darauf keine Zentimeter von der Stelle zu rücken. Auch dies ist ein Beweis dafür in was für einer Hemisphäre der Ministerpräsident mittlerweile lebt. Seine Familie und Angehörigen sollten ihm dringend eine ärztliche Behandlung zukommen lassen. Größenwahnsinn ist kein Spaß und kann sehr schnell zu einer Gefahr für die Mitmenschen werden.

Die meist panische Flucht der Menschen bringt auch auf dem Taksim-Platz immer wieder die MitprotestlerInnen in Gefahr. Erste Aufgabe ist es deshalb den Leuten mitzuteilen, ohne die Gefahr im Verzug zu relativieren oder zu beschönigen, dass keine Panik vorhanden ist. Dies ist wichtig, weil die Menschen nicht wissen was sich hinter ihrem Rücken gerade tut. Klare und laute Anweisungen sind in diesen Augenblicken wichtig um den Menschen eine Orientierung zu geben. Für die politischen AktivistInnen auf dem Platz gilt es deshalb von Anfang an zu begreifen, wo man sich gerade aufhält und dass Ruhe ausgestrahlt werden muss, um bei klarem Verstand den fliehenden, teils panischen, Mitmenschen zu helfen. Wer sich langsam entfernt zieht auch meist keine große Aufmerksamkeit der Polizei auf sich. Schon gar nicht die des Polizisten im Wasserwerfer, denn dieser konzentriert sich meist auf Menschenansammlungen, welche stehen bleiben oder sich in die Richtung des Fahrzeugs bewegen.

Ich bemerke wie groß und nah der Mond heute Nacht eigentlich ist. Es ist Vollmond. Auf dem Taksim halten sich kurz nach Mitternacht immer noch Tausende von Menschen auf. In den Seitenstraßen wird gekämpft. Wie viele Menschen sich auch in dieser Nacht dies antun ist mir nicht bekannt. Hinter den Reihen der Polizei unterwegs, sind meistens die alternativen Fernsehsender von Halk TV und Ulusal TV dabei. Diese werden immer wieder von der Polizei bedroht und aufgefordert nur die ProtestlerInnen zu filmen. Da dies nicht geschieht, werden die Fernsehleute von der Polizei bedroht und die Übertragungskabel an der Kamera des Halk TV-Fernsehteams ausgesteckt. Die Liveübertragung von einem der wenigen alternativen Sendern damit zeitweise unterbunden. In Ankara erwischt heute ein Wasserwerfer mit seinem kräftigen Strahl sogar einen Reporter von CNN.

Die gegen die Barrikaden der Menschen vorgehenden Polizeieinheiten werden in bestimmten Zeitintervallen mit neuen Kräften ausgetauscht. Ohne Helme kommen die ausgetauschten Polizisten ihres Weges gelaufen. Sie sehen nicht gut aus. Die Menschen gehen sie verbal hart an. Einige der Polizisten reagieren über und wollen auf die Menschen losgehen. Zivilpolizisten gehen dazwischen und zerren ihre erschöpften und überempfindlichen Kollegen davon.

Auf dem Taksim befindet sich eine Statue zu Ehren des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Dort versammeln sich die Menschen zuhauf, seitdem der Gezi-Park nicht mehr von Zivilisten betreten werden darf. Hier hatte auch der Pianomann aus Deutschland Tausende von Menschen mit seiner Musik unterhalten gehabt. An den Eingängen zu diesem Statuenplatz befinden sich Polizisten. Sie sind umringt von Menschen und es finden Gespräche statt. Erste Verbrüderungsszenen und Umarmungen wechseln sich ab mit Beleidigungen von hitzköpfigen ProtestlerInnen, welche beruhigt und/oder abgedrängt werden.

Um kurz vor 1 Uhr werden die Menschen aufgefordert sich von dort zu entfernen, damit sich die Polizisten selbst direkt rund um die Statue auf den Boden hinzusetzen können. In einem Abstand von bis zu drei Metern setzen wir uns in einem Halbkreis direkt ihnen gegenüber. Erneut beginnen die Versuche auf die jungen Männer einzureden. Parolen gegen die Polizei werden von den Menschen unterbunden. Die organisierten AktivistInnen wollen wissen was die Polizisten dazu bewegt, sich hier so mit massiver Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zu wenden. Schweigen im Wald. Eine junge Frau hält eine Rede über den Missbrauch der Polizei zur Machtsicherung in Diktaturen. Die 5-minütige Rede wird beklatscht. Keiner der Polizisten sagt etwas.

Auf dem Taksim gibt es sehr viele fliegende Händler mit ihren fahrbaren Essensständen. Es gibt Tee und Kaffee -Verkäufer, Wasser-Verkäufer, Reis mit und ohne Hühnchen – Verkäufer, gebratene Hackbällchen im Brot mit viel Salat – Verkäufer und Popcorn – Verkäufer. Die Polizisten sind gerade am Essen als weiterhin versucht wird auf sie einzureden. Erneut eine Parole gegen die Polizei und erneut wird darum gebeten dies zu unterlassen. Die junge Frau, welche gerade noch die Rede gehalten hatte, fremdelt nicht. Sie bittet einen Polizisten um Popcorn und bekommt auch zwei Hände voll davon. Abgelenkt durch ein Gespräch bekomme ich nur im Blickwinkel mit, wie der Popcorn-Verkäufer mit zwei Tüten Popcorn auf die besagte Frau zugeht. Alle vermuten dahinter ein Geschenk des fliegenden Händlers, aber er handelt im Auftrag eines der sitzenden Polizisten. Die Menschen applaudieren, denn sie empfinden es als eine Geste der Versöhnung. Sofort werden von den ProtestlerInnen ebenfalls Popcorn-Tüten an die Polizisten ausgegeben. Es wird weiter versucht auf die Polizisten einzureden. Geantwortet wird nicht. Nach einer halben Stunde wird die Szenerie unterbrochen. Die Menschen sollen den Statuenplatz komplett verlassen. Ein älterer Zivilpolizist gibt Anweisungen. Die Polizisten müssen aufstehen und die Menschen vom Platz drängen. Die Menschen können es nicht verstehen. Sie machen doch nichts außer zu reden. Viele Fragen ob denn nun auch das Reden eine Straftat sei.

Die Stimmung heizt sich auf und es fallen Beleidigungen in Richtung der Polizei. Diese antwortet mit einem noch stärkeren Auftreten. Neue Polizeieinheiten kommen dazu. Sie haben das gerade beendete Flair nicht mitbekommen, sind aggressiv und wollen nur den Auftrag ausführen. In diesem Moment bekomme ich mit einem Gummiknüppel von hinten einen Schlag auf den Hinterkopf. Ich gehe in die Knie und werde umgerempelt. Hände greifen nach mir und bringen mich aus dem Gedränge. Ich werde zu einem brennenden Lagerfeuer der ProtestlerInnen in unmittelbarer Nähe des Statuenplatzes gebracht. Dort komme ich nach einigen Minuten zur Besinnung. Habe Kopfschmerzen. Man gibt mir Wasser und umsorgt mich.

Nach einer halben Stunde heißt es aufstehen, denn die Polizei rückt an. Das provisorische Lazarett wird aufgelöst. Ich kann wieder gehen, aber habe Gleichgewichtsprobleme. Die Menschen auf dem Platz sind deutlich weniger geworden. Auch die Kämpfe in den Nebenstraßen werden weniger. Immer mehr Polizisten kommen auf den Taksim – Platz zurück. Gleichzeitig wird die Anzahl der ProtestlerInnen weniger. Der Statuenplatz wird nun an allen Eingängen von Polizisten überwacht. Man kommt gar nicht mehr auf den Platz. Erneut haben sich kleine Trauben im Halbkreis stehend um die Polizisten gebildet. Ich stoße zu einer Traube dazu. Ein Polizist führt aus, dass er sich auf dem Weg nach Hause schäme ein Polizist zu sein. Die Gewerkschaft der Polizei führe eine halblegale Existenz. Er müsse hier auf nackten Beton schlafen. Aufforderungen aus dem Polizeidienst auszusteigen würde für ihn bedeuten keine Existenz mehr zu haben. Er sei aus der Provinz nach Istanbul gekommen. Habe keine hohe Schulbildung und froh diese Staatsanstellung gefunden zu haben. Ein Ausscheiden aus dem Dienst würde auch bedeuten eine Vertragsstrafe zu zahlen. Die Zeit der Ausbildung sei schließlich nicht umsonst gewesen und der Staat würde eine Kündigung unter Geldstrafe stellen. Es gebe Kollegen die innerhalb von 40 Stunden nur 4 Stunden geschlafen hätten. Am Tag der Barrikadenkämpfe hätten die Vorgesetzten ihnen die Hölle heiß gemacht. Ständig hieß es bei über 30 Grad: AUFSTEHEN, HINSETZEN. WAFFEN LADEN, WAFFEN ENTLADEN. MASKE AUFSETZEN, MASKE ABSETZEN. Nach ein paar Minuten sei es wieder von vorne los gegangen. Die Selbstbeherrschung könne doch dabei irgendwann nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden.

Ein bärtiger Vorgesetzter kommt dazu und bittet die Gespräche sofort einzustellen. Die Menschen werden weggeschickt. Das Reden mit den Ordnungskräften sei ab jetzt verboten. Ich gehe wieder in Richtung der Istiklal Straße. Dort steht ein Polizeibus. Alle Fensterscheiben sind mit Gittern geschützt. Davor stehen 200 Menschen und beobachten was sich im Bus tut. Darin sind verhaftete Menschen. In der Mehrzahl sind es Frauen. Plötzlich wird im Bus das Licht ausgeschalten. Ein Polizist packt eine Frau deren Hände am Rücken gebunden sind fest am Arm und geht mit ihr in den hinteren Teil des Busses. Dort zieht er die Vorhänge zu und schlägt mehrmals auf die Frau ein. Die Menge tobt. Ein Fernsehteam wird aufgefordert die Szenerie zu filmen, aber sie weigern sich. Es sei ihnen untersagt worden direkt in die Busse reinzufilmen. Die Menschen wollen dies nicht verstehen und streiten sich mit dem Kameramann. Die Menschen werden handgreiflich. Sie schreien das Licht solle wieder angemacht und die Vorhänge geöffnet werden. Die Polizei antwortet mit dem Abtransport der Menschen. Im Laufe der Nacht werde ich noch zwei weitere Busse voller Menschen sehen. Auch dort sind in der Mehrzahl Frauen drin. Das Bild eines Gefangenen brennt sich mir ins Gehirn. Ein ohnmächtiger Mann mit nackten Oberkörper und blutverschmierten Gesicht. Es ist nicht leicht solche Bilder wieder aus dem Kopf zu bekommen. In diesen Situationen ist man nicht weit davon entfernt einen Stein zu werfen. Sich für die Gewalt zu entscheiden.

Die Lage beruhigt sich gegen 3 Uhr. Der Verkehr des Gouverneurs von Istanbul fließt wieder. Verkehrspolizisten machen harte Ansagen durch die Lautsprecher an ihren Einsatzwägen: „Taxi 78 nicht stehen bleiben. Fahr sofort weiter! Soll ich Dich etwa aus dem Verkehr ziehen?“. Die Taxifahrer wissen was zu tun ist. So schnell als möglich weiterfahren. Polizeibusse treffen ein um die Einheiten abzuholen. Die Polizei räumt nun den Statuenplatz und verlässt in der Mehrzahl den Taksim. Sofort sind die Menschen auf dem Statuenplatz und machen es sich gemütlich. Ein Protestler hat seine Gitarre dabei. Er fängt an Lieder zu spielen. Alle singen mit. Beim Lied „Uğurlar olsun“ von Selda Bağcan werden sogar Feuerzeuge rausgeholt.

Selda Bağcan ist eine der bekanntesten Volkssängerinnen der Türkei. In der Zeit der letzten Militärdiktatur saß sie zwei Mal wegen ihren Liedern in der Haft. Ihr Lied „Uğurlar olsun“ hatte sie dem ermordeten Journalisten Uğur Mumcu gewidmet. Mumcu schrieb über innenpolitische Themen der Türkei, angefangen von Korruption, Waffenschmuggel, Islamismus bis zur Situation der Kurden in der Türkei. Am 24. Januar 1993 wurde Mumcu durch ein Bombenattentat ermordet. Seine Mörder wurden nie gefasst.

Um 6 Uhr mache ich mich auf den Weg nach Hause. Noch ein wenig orientierungslos gehe ich an die Schiffanlegestelle Karabaş um nach Kadıköy in den asiatischen Teil von Istanbul zu kommen. Hier fahren auch die Schiffe zu den Prinzeninseln los. Dort an den Stränden können die Menschen sich im Meer abkühlen. Das erste Schiff fährt um 7.30 Uhr. Es ist viel los. Vielleicht 200 bis 250 Menschen warten auf das Schiff.

Ich sehe mir die Menschen an. Eine Großfamilie fällt mir auf. Die Männer mit langen Bärten verteilen Käsebörek an ihre unzähligen Kinder. Daneben insgesamt 13 Frauen in schwarzen Burkas. Nicht weit davon entfernt unterhalten sich zwei Transvestiten laut über das frühe Aufstehen und die neuesten Klatsch und Tratsch – Nachrichten. Niemand stört sich hier grad am Nächsten. Alle wollen endlich das kühle Meer auf ihrer Haut spüren. Hier gefällt es mir. Ich bemerke, dass mein erstes Schiff erst um 9 Uhr fahren würde. Mache mich deswegen auf dem Weg nach Besiktas und erwische knapp noch das Schiff. Müde fallen mir auf dem Boot die Augen für einige Minuten zu.

In Kadıköy fallen mir sofort die vielen Absperrgitter der Polizei auf. Heute um 17 Uhr wird es hier eine Kundgebung geben. 50 000 Menschen versammeln sich ab 12 Uhr auf dem Platz um dem 20. Jahrestags des Brandanschlags von Sivas zu erinnern. Damals wurde ein pogromartigen Angriff einer religiös motivierten und aufgepeitschten Menge auf Teilnehmer eines alevitischen Festivals durchgeführt. Beim anschließenden Brand des Madımak-Hotels am 2. Juli 1993, in der zentralanatolischen Stadt Sivas kamen 37 Personen zumeist alevitischen Glaubens ums Leben. Die Polizei schaute zu und ließ den Mob gewähren. Eine immer noch offene Wunde in der Seele der Aleviten, denn immer noch sind zahlreiche Verurteilte auf der Flucht, wobei sich viele in Deutschland aufhalten.

Der Pianist, Komponist und Bürgerrechtler Fazıl Say komponierte zu Ehren eines der Opfer das „Requiem für Metin Altıok“. Seine Uraufführung wurde von der Regierungspartei zensiert. Der Ministerpräsident selbst verhinderte 2008 auf der Frankfurter Büchermesse eine Aufführung des Stücks. Der Atheist Fazıl Say wurde am 15. April 2013 von der türkischen Willkürjustiz wegen Blasphemie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. So geht die Türkei eben mit seinen KünstlerInnen und MusikerInnen um.

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