Im letzten Jahr kamen weltweit 135 JournalistInnen ums Leben. 73 JournalistInnen mussten aus ihren Ländern fliehen. Die meisten inhaftierten JournalistInnen und BloggerInnen zählte die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ im letzten Jahr in der Türkei. Mindestens 42 JournalistInnen und vier MedienmitarbeiterInnen befanden sich im Gefängnis. Es sind die höchsten Zahlen seit Ende der Militärdiktatur im Jahr 1983.
Mit Internetfiltern sind über 15.000 Internetseiten durch Gerichtsbeschluss oder durch willkürliche Sperren der Kommunikationsbehörde gesperrt worden. Damit liegt das Land, auf der 179 Länder umfassenden Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 154. Vor allem unter dem Vorwand den Terrorismus zu unterstützen, müssen JournalistInnen lange Zeit ohne einen Prozess in Untersuchungshaft sitzen. Verhaftungen, teilweise illegale Telefonabhörungen und die Missachtung der Geheimhaltung von journalistischen Quellen schüchtern immer mehr ReporterInnen ein und behindern eine objektive Berichterstattung. Auch seit dem Ausbruch der Gezi-Park-Proteste wurden wieder JournalistInnen gezielt von der Polizei bedroht, geschlagen, verletzt und verhaftet.
Namen? Bitte! Durch Pfeffergasgranaten, Tränengas, Gummigeschosse oder Wasserwerfer verletzt wurden u.a.: Ismail Afacan von der Zeitung Günlük Evrensel, Onur Emre vom Blatt Sol, Mesut Ciftci und sein Kameramann Ismail Velioglu vom privaten Fernsehsender ATV, Olgu Kundakci von der Zeitung Birgün, der Reuters-Fotograf Osman Orsal und der Hürriyet-Fotograf Selcuk Samiloglu. Zusammengeschlagen wurden der Sol-Reporter, Fatos Kalacay sowie Ugur Can von der Nachrichtenagentur Dogan und Tugba Tekerek von der Zeitung Taraf. Dies sind nur einige von vielen bereits bekannten Namen. Zu viele JournalistInnen erstatten jedoch aus Angst vor Übergriffen auf die Familie keine Anzeige oder machen ihr Leiden öffentlich.
Die Angst der Fernsehanstalten, die Geschehnisse auf den Straßen und Plätzen der Türkei zu zeigen, um der Bevölkerung eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen, ist also verständlich. Sofort würde die staatliche Rundfunkbehörde reagieren und eine Strafe aussprechen. Geldstrafen bis hin zu einem Lizenzentzug, schweben in einem permanenten Drohzustand wie ein Damoklesschwert über den ausgestrahlten Programmen der Sender. Stattdessen werden Dokumentationen und Filme gezeigt oder – wenn man sich anbiedern möchte – jede mögliche Rede des Ministerpräsidenten. Mit dieser Omnipräsenz in den Medien hat es die Regierung sehr leicht, ihre Meinung zu den Protesten einem breiten Publikum in einer Dauerberieselung zugänglich zu machen. Der EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle liegt deshalb mit seiner Einschätzung, dass sich die Medien in der Türkei bezüglich der Berichterstattung über die laufenden Proteste gegen die Regierung, einer Selbstzensur unterzogen haben, richtig. Nicht nur einmal versammelten sich Menschen zu einer Kundgebung, symbolisch für alle stummen Sender, vor dem Sendezentrum des regierungsnahen Senders NTV, um für eine faire Berichterstattung der Sender NTV, CNN Türk, Haber Türk TV, Kanal D, ATV, Star TV, Show TV und TRT sowie der Zeitungen Star, Sabah und Haber Türk zu demonstrieren. Mittlerweile haben sogar internationale Firmen wie Ikea, Vodafone und Ford angekündigt keine Werbung mehr auf den (selbst-)zensierten türkischen Kanäle ausstrahlen zu wollen, so die liberale Zeitung Radikal.
Als alternative Sender haben Ulusal TV, dessen Homepage heute gehackt wurde und Halk TV immer mehr ZuschauerInnen zu verzeichnen. Nicht nur dies. Die willkürlichen Geldstrafen der staatlichen Rundfunkbehörde zahlen die Menschen. Die Sender haben dazu Hotlines gestartet. Bei einem Anruf wird eine Gebühr von 4 Lira auf der nächsten Telefonrechnung erscheinen. Damit schaffen es diese Sender auch weiterhin ihre Berichterstattung aufrecht zu erhalten. Für die anrufenden Menschen sind diese Sender wichtig, denn hier werden keine Kochsendungen, Berichte über Pinguine oder Quizshows gezeigt, während auf den Straßen und Plätzen um die Zukunft des Landes gekämpft wird. Die Sender senden meist live und lassen die ProtestlerInnen zu Wort kommen. Fernsehen ist auch deshalb wichtig, weil in der Türkei, anders als in Europa, die Zeitungen und ihre Online-Ausgaben kein Massenpublikum erreichen. Um auch aus entfernten Landstrichen per Liveübertragung berichten zu können hat der Sender Ulusal TV eine Kampagne zum Kauf von sechs 3G-Kameras gestartet. Hier kann der Kauf unterstützt werden.
Die Lage bei den Printmedien ist nicht viel besser. Erst vor zwei Tagen wurden beim Boulevardblatt Akşam die Journalistinnen Tuğçe Tatari, Nilay Örnek und Sevim Gözay entlassen. Der Chefredakteur İsmail Küçükkaya zu einer Kündigung genötigt. Der seit Mai 2013 neue Eigentümer, der Staatsfond Tasarruf Mevduatı Sigorta Fonu – Fond zur Versicherung von Sparkapital – (TMSF), setze mit Mehmet Ocaktan einen ehemaligen Parlamentsangeordneten der Regierungspartei aus Bursa an die Spitze der Zeitung. Dieser war bis dato Chefredakteur der regierungsnahen Tageszeitung Sabah. Hinter den Entlassungen und der Neubesetzung stehen politische Gründe.
Die ehemals der türkischen Zentralbank untergeordnete Finanzholding TMSF untersteht mittlerweile direkt dem Ministerpräsidenten. Mit diesem Mischunternehmen hat es die Regierung in den letzten Jahren geschickt geschafft etliche Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender und Radiosender unter ihre Kontrolle zu bekommen. Sogar der Bezahl-Fernsehsender Digitürk, mit über 170 Sendern, darunter die 1. türkische Fußballliga Süperlig, ist seit 2013 in staatlicher Hand. Oft wegen Überschuldung verstaatlicht, wurden viele Medien, jedoch nicht alle, nach einer Zeit wieder privatisiert. Wie mensch sich an dieser Stelle vielleicht schon denken kann, gingen die Vergaben an Unternehmen mit regierungsnahen Leuten an den Spitze. Veruntreuung von staatlichen Geldern und Korruption gehen hier in aller Öffentlichkeit Hand in Hand.
Der landesweiten Gedenktag für den ermordeten 26-jährigen Arbeiter Ethem Sarisülük begann in Ankara mit 30 Hausdurchsungen und 23 Verhaftungen. Bei der Abschiedfeier der Anadolu Universität in Eskişehir verlangten 5.200 Menschen den Rücktritt der Regierung. Seit 19 Uhr versammeln sich im ganzen Land wieder Tausende von Menschen zu Kundgebungen und Versammlungen. Auf dem Taksim läuft ein bisher ungestörter Sitzstreik. In Ankara greifen Polizisten erneut ab 23 Uhr die Menschen im Stadtlandkreis Dikmen an. Eine friedliche Demonstration wurde dadurch verhindert. Im Stadtlandkreis Keçiören/Ankara, hier hat der Premierminister sei Haus, wurden ProtestlerInnen von einer Drei-Mann-Gruppe angegriffen, dabei ein Protestler am Arm verletzt.
In einem Artikel in der Zeitung Cumhuriyet berichtet die Mutter Derya Aydoğdu aus Ankara von der Verhaftung ihres 13-jährigen Sohns Alperen Aydoğdu. Um 3.30 Uhr des Vortages war erneut eine Demonstration in Dikmen/Ankara von der Polizei angegriffen worden. Sie habe ihre beiden Söhne aus den Augen verloren, den älteren Sohn aber nach einiger Zeit wieder gefunden. Alperen dagegen sei nicht auffindbar gewesen.
Viermal habe sie insgesamt bei der Polizeizentrale angerufen. Jedes Mal wurde ihr ausgerichtet, dass es sich bei den vier Verhaftungen der Nacht um Erwachsene handelt. Ihr Sohn sei in der Zwischenzeit von einer 45-50-jährigen Polizistin mit Schlägen und Tritten malträtiert worden. Während den Schlägen sei es zu übelsten Beschimpfungen und Beleidigungen gekommen. Weiterhin wollte man ihn zwingen das Polizeiemblem auf der Uniform zu küssen. Als er dies verweigerte sei es wieder zu Schlägen gekommen. Außerdem seien die Aussagen gefallen „Mustafa Kemal’in askerleriyiz diyorsunuz. Gelsin kurtarsın bakalım Mustafa Kemal sizi bizim elimizden“ (Ihr sagt, ihr seid die Soldaten von Mustafa Kemal. Soll doch Mustafa Kemal nun kommen und euch aus unseren Händen befreien) und „Biz Osmanlı’nın torunlarıyız“ (Wir sind die Enkel der Osmanen).
Froh sei sie gewesen als ein Bekannter sie anrief und mitteilte ein Video von der Verhaftung zu haben. Die Mutter habe sich sofort selbst davon überzeugt und erneut die Polizei angerufen. Am Apparat hätte sie sich rechtfertigen müssen, was denn ihr Sohn um diese Uhrzeit auf einer Demo zu suchen hätte. Danach sei ihr Sohn in die Jugendvollzugsanstalt eingefahren und dort von der Staatsanwaltschaft wie ein Terrorist ausgefragt worden. Sie durfte ihn weder sehen, noch vor dem Gefängnis auf ihn warten. Als sie ihren Sohn endlich wieder hatte, verschwieg ihr Sohn die Geschehnisse, um die Mutter damit nicht zu belasten. Doch die Schläge auf den Kopf und die Beine hatten Spuren hinterlassen. Sie werde nun eine Anzeige einreichen. Ihrem Sohn ginge es nicht gut. Er könne die Erlebnisse nicht vergessen. Wegen den Handlungen der Polizisten empfinde er Scham. Ähnliche Fälle von Polizeigewalt gibt es in diesen Tagen überall im Land.
An einer Pressekonferenz der Familie des Ermordeten Ethem Sarisülük mit ihrem Anwalt nahmen gestern auch VertreterInnen der Gewerkschaften Türk Mühendis ve Mimar Odaları Birliği – Türkische Architektenkammer – (TMMOB), Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter – (KESK), Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu – Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei – (DISK) und Türk Tabipleri Birliği – Türkischer Ärzteverband – (TTB) teil. Einig waren sich alle Beteiligten in der Ablehnung der Gerichtsentscheidung den Mörder von Ethem Sarisülük aus der U-Haft freizulassen.
Der Premierminister hielt heute wieder eine unmögliche Rede vor seiner Parteifraktion im türkischen Parlament. Neben vielen Wiederholungen und Lügen äußerte er sich zum Angriff der Polizei auf die Menschen im Divan Hotel. Am Tag der Parkräumung hatten sich die fliehenden Menschen ins Hotel geflüchtet. Die Polizei drang ins Hotel ein und griff die Menschen mit Pfeffergasgranaten an. Der Premierminister verurteilte in seiner Rede jedoch erneut nicht die Polizei, sondern die Hotelleitung. Sie hätten den ProtestlerInnen ein warmes Bettchen bereitet und ihnen Unterschlupf gewährt. Auch dies sei eine Straftat. Die Staatsanwaltschaft wird diese Rede sicherlich gehört haben und in Kürze aktiv werden.
Eine der permanenten Lügen des Premierministers bei öffentlichen Auftritten ist es zu behaupten in der Dolmabahçe Moschee hätten die ProtestlerInnen Alkohol getrunken. Der Muezzin der Moschee Fuat Yıldırım äußerte sich in einer sechs Stunden dauernden Befragung heute bei der Polizei zu diesem Vorwurf: „Ich bin ein Mann des Glaubens und lüge nicht. Ich habe niemanden Alkohol trinken sehen.“ Der Premierminister wird dies nicht gehört haben. Stattdessen muss der Muezzin nun um seine Anstellung fürchten. Am Abend veröffentlicht der Taksim Widerstand seine neuesten Beschlüsse:
1) Die im Krankenhaus liegenden DemonstrantInnen werden besucht.
2) Die Forderungen werden konstant erneuert.
3) Die Aktionen der Interessensgemeinschaft werden um 21 Uhr fortgesetzt.
4) An den Plätzen der Ortsteile, an denen Foren stattfinden, werden Fluchtwege gebildet.
5) Es wird ein großes und umfangreiches Forum organisiert.
6) Samstags wird die Besetzung am Taksim Gezi Park fortgesetzt und wir werden die Massen zur Beteiligung aufrufen.
7) Die Aktion „Stehende Menschen“ wird verstärkt und verbreitet.
Jeden Abend findet statt:
a) Um 20.00h wird 10-15 Minuten mit den Händen in den Hosentaschen auf der nächstgelegenen Strasse gestanden.
b) Um 21 Uhr wird das „Töpfe und Pfannen – Musical“ dargeboten.
c) Um 22 Uhr werden zu Hause für 5 Minuten die Lichter gelöscht, der Fernseher ausgemacht, das Telefon und der Computer nicht benutzt.
Wir sehen, es geht erst los.
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